Ellen Fernhout
Ellen Fernhout
Kein Augenblick des Lebens wird uns
jemals aufs Neue gegeben.
Sie wollte mir etwas fürs Leben
mitgeben und fand, dass die drei Zitate perfekt zu mir passten: „Aufmerksamkeit
ist die erste Pflicht bei allen Arbeiten, die man verricht‘“ und „Keine größere
Last als Faulheit und Rast”. Diese Botschaften waren zwar unangenehm,
aber deutlich. Aber die dritte war am Schlimmsten: „Kein Augenblick des Lebens
wird jemals uns aufs Neue gegeben”. Das hat mir auf erschreckende Weise die
Augen geöffnet. Zu diesem Zeitpunkt lebte ich bereits zweihundertzweiundfünfzigeinhalb
Millionen Sekunden, was ich damals allerdings noch nicht wusste.
Ich weiß es erst seit einigen
Tagen - seit ich Paul Combrinks digitale Uhr gesehen habe, die diese
Ausstellung so explizit in die Perspektive des zeitverschlingenden Lebens
rückt. Diese Uhr deutet Combrinks Alter in hundertstel Sekunden an. Die Anzahl
der verstrichenen Augenblicke wächst rasend schnell. Ich lebte also bereits
zweihundertzweiundfünfzigeinhalb Millionen Sekunden und hatte keine einzige
Sekunde darüber nachgedacht, dass die Sekunden einfach verstreichen. Diese
Erkenntnis hat mir den Atem verschlagen und konnte niemals wieder rückgängig
gemacht werden. Vor dieser Zeit gab es keine Zeit. Danach war sie
allgegenwärtig. Vasalis drückt es in ihrem Gedicht „ Zeit” [1] so aus: Wie konnt‘ ich das
nicht früher wissen, Später kam noch solch ein Spruch
hinzu. Auf dem Weg zur Schule radelte ich jeden Tag an einer Sonnenuhr vorbei,
die hoch oben an der Mauer der Handwerksschule hing. Unter der Sonnenuhr stand
drohend: „praetereunt et imputantur”. Sie vergehen und werden uns
hinzugezählt. Combrinks digitale Uhr braucht einen solchen Text nicht. Die Uhr
kann man übrigens auch gar nicht lesen. Die Zahl ist so groß und ändert sich so
schnell, dass sie unleserlich ist. Es ist die ultimative Darstellung des
lateinischen Textes: „Sie vergehen und werden uns hinzugezählt”. Für dieses
Selbstbildnis wurde kein Spiegel, sondern eine Fotokamera benutzt Diese Ausstellung heißt „Selbstbildnis”.
Auf den ersten Blick erscheint dies unlogisch, da alles, was man sieht,
hauptsächlich abstrakt ist: Gemälde und Fotos sowie zahllose numerische
Verweise auf Combrinks Alter und die Zeit generell. Aber es gibt keinerlei
Hinweise auf sein Äußeres. In einem Selbstbildnis wird
normalerweise wiedergegeben, was ein Künstler sieht, wenn er in den Spiegel
schaut. Für dieses Selbstbildnis wurde allerdings kein Spiegel, sondern eine
Fotokamera benutzt. Paul fotografiert da, wo er sich zufällig gerade befindet
und jeden Tag zum gleichen Zeitpunkt dasjenige, was auf seiner Netzhaut steht. Buchstäblich
ist dies natürlich nicht möglich, da die Kamera sich ja nicht in seinen
Augen befindet, sondern davor. Nichtsdestotrotz gelingt ihm die – nahezu nicht
inszenierte – Nahaufnahme. Natürlich macht man kein Foto von
Autos bei Aldi in Scheveningen im Nieselregen, mit dem deprimierenden
Schaufenster des „Hout van Wout”-Geschäfts im Hintergrund. Und man kreiert auch
kein Stillleben aus einem Haufen alter Zeitungen, auf denen eine Schüssel
steht. Es geht ihm darum, was ihm in diesem einen Augenblick vor Augen kam. Es
ist buchstäblich dieser eine Moment im Leben, den er festhalten möchte, da dieser
niemals zurückkehrt.
Im Albert Vogel-Raum hängen „Zeitlandschaften”
und „Tagebilder”. Die Fotos befinden sich unter den Farbschichten. Wie eine Art
‚Vater der Zeit‘ macht Combrink genau das, was die Zeit mit Augenblicken macht:
Er verändert sie in Erinnerungen, die sich wie eine Illusion mit uns
weiterentwickeln und nahezu keinerlei Spuren des ursprünglichen Augenblicks hinterlassen.
Den idyllischen Platz vor der Kirche in dem französischen Dörfchen hat es –
wenn man nach 20 Jahren zurückkehrt – wohl niemals gegeben. Ganz zu schweigen von
den zufälligen Augenblicken wie dem regnerischen Vormittag bei Aldi. Was bleibt
in unserer Erinnerung von diesen Momenten im Endeffekt übrig? Jedes „Tagebild”, jede „Zeitlandschaft”
ist die Erzählung einer Erzählung einer Erzählung und so weiter eines
Augenblicks, einer Anekdote. Und diese Erzählungen bilden – in verschiedenen
Zusammenstellungen – das Leben, das ja auf viele verschiedene Weisen erzählt
werden kann: in den Türmen der Zukunftserwartungen, den
Zimmern der Hirngespinste, sortiert nach Ton, Farbe, Zahl. Ein Hauch der Augenblicke,
aus denen sie entstanden sind, schimmert durch die Farbschichten hindurch. Wirklich faszinierend ist
allerdings Folgendes: Mit seinem künstlichen Eingriff beraubt Combrink sich
selbst der Möglichkeit, den Augenblick bei Nieselregen bei Aldi in andere
Erfahrungen und Erinnerungen aufzunehmen, da er ihn festgelegt und datiert hat. Bisher hatte er die Fotos, die hier in ihrer Blöße hängen,
in seinen Gemälden verborgen. Daneben gibt eine riesige Zahl Pauls Alter zum
Zeitpunkt des Fotos wieder. Er versucht, das Schauen, die Augenblicke, die
niemals zurückkehren, festzuhalten und ihnen in der Zeit, im Leben selbst eine
Bedeutung zu verleihen. Allerdings relativiert er diese
Bedeutung wieder durch die vielmals größeren Zahlen, die daneben stehen. Sie
deuten alle denselben Zeitpunkt in verschiedenen Zeitrechnungen an – der
gregorianischen, armenischen und chinesischen. Mit diesem Kunstgriff verlegt er
die Perspektive der Zeit seines eigenen Lebens in die Ewigkeit, und von dort
aus gesehen ist das ganze Leben ein Augenblick, der blitzschnell vorbei ist. „Mir träumte, dass ich langsam
lebte“ Dort auf der Wand steht der Satz:
„Mir träumte, dass ich langsam lebte“, der erste Satz
aus dem Gedicht ‚Zeit‘ von Vasalis. Genau wie Combrink wollte Vasalis ausdrücken,
dass man die Zeit, wie wir sie erfahren, aus der Ewigkeit betrachtet. Dazu muss
man versuchen, sich vorzustellen, man wäre ein Wesen, das ewig lebt. Aber ein
Wesen, das ewig lebt, ist uns unbekannt. Vielleicht
ein Stein? Schließlich sagt man ja auch ‚steinalt‘. In unserer primitiven
Erfahrungswelt haben auch Steine ein ‚Alter‘. Angenommen, das Leben sei für
alle Menschen gleich lang – dann beträgt der Lebensweg ungefähr 80 Jahre. Verglichen
mit einem Stein ist das sehr schnell, da der Lebensweg eines Steins Millionen
Jahre beträgt. Der Stein lebt also langsam und erlebt viel mehr. Für den nahezu
unnötig langsam lebenden Stein vollzieht sich ein Tag blitzschnell, und ein
Jahr ist im Nu vorbei. Mit dem Traum eines
langsamen Lebens erlebt man diese Ausstellung am besten. Der stetige Perspektivwechsel
vom Augenblick zum Leben zur Ewigkeit und wieder zurück sorgt für Entfremdung. Sie
können es einfach hinnehmen, sich Sorgen darüber machen oder völlig verrückt
werden. Und es ist phantastisch, zu erleben, wie aus so vielen objektivierenden
Elementen ein authentisches Selbstbildnis entstehen kann. Ellen Fernhout |